Echtzeit

Sonntag, 27. März 2005

Osterliche Bilderwut im Herrengarten

Es ist Ostern - das Fest der Auferstehung. Wie vor gut 2000 Jahren eine der wichtigsten Figuren des Christentums auferstand, so scheint ihm auch die Darmstädter Bevölkerung gleiches tun zu wollen. Doch in einer etwas anderen Weise.

Beim morgentlichen Ostersonntag-Joggen durch die grüne Lunge der Stadt konnte ich beobachten, wie junge und alte Bildjäger geradeso aus dem Boden sprießend knipsen, filmen oder posieren. Dies gilt für Händchen haltende Päarchen oder Eis schleckende Rentner genauso wie für junge Väter hinter ihrem Off-Road-Kinderwagen. Als Motiv hält nahezu alles her, was sich in der nahen Umgebung findet. Mit der Digi-Cam mal eben eine Serie der Knospe am bald blühenden Baum fokussiert, den Partner vor einem wünderschönen leider noch nicht blühenden Dormbusches geknipst oder in einem semi-professionellen Kurzfilm die zarten Gehversuche des geliebten Nachwuchs aufgenommen.

Es schien mir, dass sich beinahe jeder Besucher des Herrengartens an diesem Morgen hinter dem Sucher eines digitalen Gerätes versteckte. Unweigerlich drängt sich mir die Frage auf, was mit diesen Bildern geschehen wird. Wer wird sie sich anschauen, wer wird sich anhand des geschossenen Materials noch an den schönen Frühlingstag erinnern? Und was mich eigentlich in diesem Zusammenhang noch mehr beschäftigt: Ist es das Einzigartige, das Sensationelle und Aufzeichnugswerte, das die Bilderwütigen festzuhalten versuchen oder drücken sie gar aus purer Langeweile auf den Auslöser?

Was natürlich an diesem Spektakel reizt, ist die Möglichkeit der Öffentlichkeit sein neu im Elektro-Discounter erworbenes Wunderwerk der Technik vorzuführen. Zeigen, dass man auf der Welle des digitalen Booms mit oben aufschwimmt, die neue Coolpix mit 512 MB-Flashkarte im Anschlag. Ich gehe einfach mal davon aus, dass die Kamera wohl kaum über den Automatik-Mechanismus hinaus genutzt wird. Und wenn dann ein Bild nichts geworden ist, dann wirft man es eben schnell in den Papierkorb. So einfach ist das. Und knipst eben zwanzig neue. Hinterher kann man den Rest ja im mit dem Gerät gelieferten Bildbearbeitungsprogramm modizifieren. Per Auto-Tonwert-Korrektur.

Sicher ist es ein großer Vorteil, dass wir nicht - wie vor einigen Jahren noch - einen Film in die Kamera einlegen müssen und dann meist 36 Schüsse zur Verfügung haben, um das festzuhalten, was uns wichtig, interessant oder schön erscheint. Ich versuche mich zu erinnern, wie viele Menschen ich vor der digitalen Welle nachmittags durch den Park spazieren und alle paar Sekunden auf den Auslöser drücken sah. Ich glaube, da gibt es Unterschiede.

Wenn ich nach einer Bergbesteigung über das Gipfeldach hinwegblicke oder beim Sonnenuntergang an der toskanischen Küste mich dabei bewußt dazu entscheide kein Bild zu schießen, um viel lieber das Szenario in seiner reinen Form zu genießen, dann stellt sich mir die Frage, wie weit der Genuss des osterlichen Nachmittags-Ausfluges in den Herrengarten geht.

Montag, 14. März 2005

Möge die Macht mit Dir sein!

Vergangenen Samstag fanden in Hannover die offiziellen deutschen Meisterschaften des Star Wars Customizable Card Game statt. In den Jahren nach 1996 noch voll im Trend und von Tausenden Jugendlichen in jeder Region Deutschlands eifrig gesammelt und gespielt ist es in den letzten Jahren – seit die Produktion eingestellt wurde – ruhig um die Trading Cards aus dem Star Wars Universum geworden.

Einige Unverdrossene jedoch sammeln, tauschen und spielen immer noch. Über das Internet hält die geschrumpfte Community untereinander Kontakt und das Player's Committee kümmert sich um die Belange der Spieler aus aller Welt, sorgt für eine Weiterentwicklung des Spiels und richtet die nationalen und internationalen Meisterschaften aus.
Dabei wird nach einem Ligasystem gespielt welches den alten Regeln der Fußball-Bundesliga gleicht: Für einen Full Win (der Gegner hat all seine Karten verloren) werden dem Sieger zwei Punkte gut geschrieben, wenn er nach Ablauf der Spielzeit nur über mehr Karten als sein Kontrahent verfügt, erhält er einen Punkt. Der Verlierer geht in jedem Fall leer aus.
Bei nationalen Wettkämpfen wird nach insgesamt sechs Partien – jeder Spieler tritt je drei mal in der Rolle des Imperiums oder der Allianz an – der Tabellenführer zum Sieger gekürt.

swccg_dt_meisterAm Samstag fand sich die Elite der deutschen Star Wars Spieler gegen 10:00 Uhr am Wettkampfort ein und wurde von Chris Menzel, dem „Flight Leader“ für Deutschland, Österreich und die Schweiz begrüßt.
Nach über acht Stunden hitziger Gefechte, hinterlistiger Taktiken, Siegen und Niederlagen hatte sich Florian Siepel aus Neustadt mit zwölf Punkten klar als neuer deutscher Meister durchgesetzt. Während des ganzen Turniers gab er sich keine Blöße und hinterließ stets verblüffte Gegner.
Zweiter wurde Vorjahressieger Dirk Friedrichs aus Hannover, welcher sich mit sieben Punkten knapp gegen Philipp Otter aus Karlsruhe durchsetzen konnte der mit sechs Punkten die Bronzemedaille einheimste.

Bild: F-punkt-M

Mittwoch, 2. März 2005

Einbruch in die FH Darmstadt, Campus Dieburg

campus
Wie heute von einem Sprecher der Polizeidirektion Darmstadt-Dieburg bestätigt wurde, haben unbekannte Täter in der Nacht von Donnerstag auf Freitag insgesamt 18 Lehrsäle des Campus Dieburg aufgebrochen und die darin installierten Videobeamer entwendet
(wir berichteten).

Die ermittelnden Beamten gehen zur Stunde von mehreren Personen aus, welche zwischen Donnerstag 18:00 Uhr und Freitag 6:00 Uhr ins Gebäude 15 einstiegen, die Türen zu den einzelnen Räumen mit Brecheisen aufhebelten und das Diebesgut mit einem Fahrzeug abtransportierten.

Darüber hinaus wurden ein Getränke- und ein Snackautomat – ebenfalls im Gebäude 15 – aufgebrochen und das Münzgeld entwendet.

Der angerichtete Schaden beläuft sich auf geschätzte 35.000 Euro. Hinweise, welche zur Aufklärung der Tat führen könnten nimmt die Polizeidienststelle Dieburg entgegen.

Wie uns ein Angestellter der Fachhochschule berichtete, besteht seitens der FH kein Versicherungsschutz für die entwendeten Geräte. Somit ist es unklar, ob bis zum nächsten Semester wieder ausreichend Geräte für alle Räume angeschafft werden können.
Darauf angesprochen wollte sich die zuständige Stelle der Fachhochschule nicht äußern.

Bild: F-punkt-M

Dienstag, 1. März 2005

breaking news...

Die Türen wurden mit Brecheisen aufgestemmt. An den Decken der Säle erinnern nur noch die Tragegestelle an die Beamer.
Quelle: F-punkt-M

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurde auf dem Campus Dieburg in die Gebäude der FH Darmstadt eingebrochen.
Einem Angestellten der FH zufolge wurden in den Häusern 15, 17 und 18 diverse Vorlesungsräume aufgestemmt und die darin installierten Videobeamer entwendet. Insgesamt soll es sich um 15 bis 20 gestohlene Geräte handeln.
Mit brutaler Gewalt verschafften sich die Kriminellen Zutritt zu den Vorlesungssälen und rissen die elektronischen Geräte von den Deckenträgern oder aus Tischen heraus.

Kleinere und wertlose Elektronik und die unterschiedlichen Fernbedienungen der Geräte wurden liegen gelassen. Momentan geht man von einer Tatzeit in den frühen Morgenstunden aus, da bis etwa 00:30 Uhr noch Studenten in der Hochschule gearbeitet haben sollen.

Von offizieller Stelle war noch keine Aussage zum wahrscheinlichen Tathergang oder dem aktuellen Stand der Ermittlungen zu erhalten.

War er wirklich da?

Wer hat nicht die Bilder im Fernsehen verfolgt? Wer war nicht gespannt, wie sich die Einwohner von Mainz bei solch hohem Staatsbesuch verhalten werden? Und wer hatte nicht schon damit gerechnet, dass der Kurztrip von Präsident George W. Bush vielmehr einer Inszenierung seiner PR-Abteilung gleichen würde, als dass der Mann sich ernsthaft mit den Deutschen auseinandersetze?

„Wenn wir nicht rechtzeitig los fahren, müssen wir im Zug stehen“. Also klingelt der Wecker am Mittwochmorgen bereits um 06.30 Uhr. Im Radio dann die Meldung, dass die Autobahnen von den amerikanischen Sicherheitsbeamten bereits früher als angekündigt gesperrt wurden. Pech für die Pendler. Wir stellen uns auf jede Menge Gerangel und Gedränge ein. In Berlin gingen 2002 schließlich über 100.000 Demonstranten auf die Straße!

Bei Kaffee und Brezel sitzen wir um 08.10 Uhr in einem nicht einmal halb vollen Abteil der Regionalbahn von Darmstadt in Richtung Wiesbaden. Irritiert fragen wir den Schaffner nach irgendwelchen Vorkommnissen. Wir lägen im Zeitplan. Er habe heute morgen mit einem Kollegen aus Mainz telefoniert. In Mainz sei überall Ausweiskontrolle.

Todesstille in Mainz

Als wir die breiten Stufen der Bahnhofsunterführung müde hinunter steigen, weht uns ein eisiger Wind entgegen, der auf dem Vorplatz des kleinen Bahnhofes Mainz Süd ungebremst unsere Gesichter trifft. Wieder nichts Außergewöhnliches. Wieder erstaunt. Ein Blick auf die Uhr: viertel vor neun. Wir stapfen los in Richtung City. Die Stadt: ausgestorben. Wir scheinen die einzig lebenden Wesen an diesem Morgen zu sein und kommen uns fehlplaziert vor. Die Geschäfte sind geschlossen, die Fensterläden zugeklappt, die Stelltische der Strassencafés hinter verriegelten Glastüren aufeinander gestapelt.

Dann endlich Bewegung im Augenwinkel. Zwei grüne Gestalten stehen an der Ecke und tippeln von einem Bein auf das andere. In ihren Taschen stecken Knüppel und Walkie-Talkie. Sie grinsen uns an. Wir fühlen uns beobachtet. Rechter Hand stehen grüne Kastenwägen mit Nummernschildern aus Potsdam. Ich greife zu meiner Kamera und mache meine erste Aufnahme, weniger aus Notwendigkeit als aus Alibi-Gründen.

Bei unserem weiteren Gang treffen wir vereinzelt auf Zivilisten, meist jedoch auf Polizisten, die die Wege in die Seitengassen versperren. Je weiter wir in die Innenstadt vordringen, desto mehr Einsatzwägen und Polizisten säumen die Straßen. Wieder will ich - dieses Mal vor einer Bäckerei - auf den Auslöser meiner Kamera drücken, um die Armada der Polizistenvehikel auf Celophan festzuhalten. Da lehnt sich ein kahl geschorenem Kopf aus dem Fenster des vordersten Wagens und schreit mit energischer Stimme: „Das würde ich an Deiner Stelle nicht tun!“ Verblüfft einerseits über ein Lebenszeichen anderseits über die Bestimmtheit in der Stimme des Polizisten senke ich meine Kamera. „Sonst steige ich aus!“, versucht der Kopf seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. Ich überlege mir schnell, wie wichtig mir das Bild ist und drehe mich kopfschüttelnd um und entscheide mich gegen eine Diskussion. Das bisher einzig spannende an diesem Morgen ist die übermäßige Präsenz der Polizei, die sich scheinbar auf die Apokalypse vorzubereiten scheinen.

Weiter in Richtung Dom. Hier wenigstens einige schaulustige Mainzer und eifrige Journalisten auf der Jagd nach ihren ersten O-Tönen des Tages. Wenig spannend. Wir wollen uns irgendwo aufwärmen. Vielleicht ist später ja mehr los. Nach langer Suche endlich eine nicht verschlossene Tür: das Café d`Arte. Zwei Tische belegt. Wo sind die Mainzer? Wir erfahren am Telefon, dass Bush mittlerweile in Mainz gelandet ist.

Mit Kanonen auf Spatzen schießen

Nach einer Stunde Cappuccino und Tee versuchen wir erneut unser Glück. Immer noch ist es eisig kalt. Und tatsächlich ist mittlerweile in den Strassen mehr los. In einer weiteren erstaunlicherweise geöffneten Bäckerei machen wir Halt, um im Gedränge auf einem kleinen Schwarzweiß-Fernseher auf dem Bartisch Weltgeschichte zu verfolgen. Bushs Air Force One setzt die Räder auf deutschen Boden, er winkt und steigt in die Limousine. Wenig spektakulär, denken wir wieder und gehen weiter. Wir scheinen auf dem Weg in das Herz des Hochsicherheitstraktes zu sein. Auf den Gehwegen aufgereiht stehen die Ritter zur Wahrung der Staatssicherheit in voller Kampfmontur. Was jedoch immer noch fehlt, ist der Gegner. Und plötzlich sind wir an der Front! Eine grüne Wand aus Polizisten baut sich vor uns auf. Blaulicht, bewaffnete Polizisten und Anti-Konflikt-Teams, die mit Namensschildchen an der Brust munter lustige "Ich bleibe fair"-Buttons und Informationsbroschüren zu korrektem Verhalten auf Demonstrationen verteilen. Doch vor allem die Presse ist präsent. In jeder Himmelsrichtung entdecken wir mindestens ein Kamerateam, einen Übertragungswagen oder einen Fotografen mit überdimensionalem Objektiv um den Hals baumeln. Sie halten fest, dass nichts festzuhalten ist, außer einem überdurchschnittlichen Polizeiaufgebot und ein paar friedlichen Demonstranten mit Anti-Bush-Plakaten. Auch wir fotografieren.

Plauderstunde mit dem Anti-Konflikt-Team. Sie kommen aus Berlin. Sie kennen sich mit problematischen Demonstranten aus. Sie sind die Spezialisten. Wir wollen sie nicht bei ihrer Arbeit stören und laufen die gleiche Strecke wieder zurück zum Schwarz-Weiß-Fernseher. Auf dem Weg: "Bush = Bullshit" oder "Go home Bush"-Transparente. Sie streifen einfach durch die Straßen, scheinbar ohne Ziel und ohne Sinn, unter den wachsamen Augen der Staatsbeamten.

Aus purer Langeweile und aufgrund unserer nahezu abgefrorenen Fußzehen entscheiden wir uns zum Rückzug: ab elf sollen angeblich wieder die Bahnen fahren. Unterwegs eines der groteskesten Bilder: Eine Gruppe von maximal fünfzig Demonstranten mit USA-Flaggen und Pro-Bush-Transparenten stoßen Willkommensgrüße an Bush gen Himmel, selbstverständlich gefolgt von einer Eskorte aus einem Dutzend Polizeiwägen. Man stelle sich mal vor, es käme zu Ausschreitungen! Später werden sie dem ZDF erzählen, dass sie zeigen wollten, dass nicht ganz Deutschland gegen Bushs Besuch ist.

Wir stehen verwirrt auf dem Bahnsteig und zweifeln an unserem Vorhaben. Bald bekommen wir Gesellschaft von einem Kamerateam des Hessischen Rundfunks. Ob wir gerade auf der Pro-Bush-Demo waren? Auch sie wirken konfus, auch sie haben kalte Füße, auch sie fahren Bahn, nur in die andere Richtung. 11.52 Uhr nach Darmstadt, 11.52 Uhr nach Mainz Hbf. Die Entscheidung fällt uns schwer. Mit dem Titel „5 vor 12“ wurde auf der Webseite www.bushinmainz.de zu einer groß angelegten Anti-Bush-Demonstration und zivilem Ungehorsam aufgerufen, inklusive Kundgebung. Wir lassen uns wieder von der Vorstellung, dass doch etwas Spannendes passieren könnte, mitreißen und begleiten das hessische Kamerateam zum Mainzer Hauptbahnhof.

Faschingszug aus Protest

Als wir wieder aus dem Zug steigen, schießen mir unweigerlich Bilder vom zwei Wochen vergangenen Karneval in Köln in den Kopf. Verkleidete Menschen drängen sich über die Gleise und auf den Rolltreppen des Bahnhofs. Es wird viel Bier getrunken, die allgemeine Stimmung scheint heiter. Der einzige Unterschied zum Fasching: die grüne Sicherheit. Eine kleine Stadt im Ausnahmezustand. Wer sich besonders ärgert sind unbeteiligte Fahrgäste, wer sich besonders freut, ist der Türke in der anatolischen Döner-Bude an der Ecke. Kaum verlassen wir den Bahnhof, strecken uns unzählige Hände kopierte Flyer und Broschüren entgegen. Dabei geht es selten um den Staatsbesuch, als vielmehr um allgemeine politische Themen wie Hartz IV, die Bekämpfung des Kapitalismus oder Mumia Abu-Jamal, der seit Oktober 2003 im US-Todestrakt sitzt. Warum, steht leider nicht auf der Seite. Auch die PDS verteilt ihre Werbebroschüren: „Das Recht auf Leben muss unantastbar sein“, so der Titel. Zu Themen wie sie verschiedener nicht sein können, werden den Anwesenden informative wie meinungsbildende Häppchen angeboten. Ein gefundenes Fressen für Aktivisten. Wir sollen die Zeitung „Linksruck“ zu einem Vorzugs-Demo-Preis erstehen. Wir fragen, wieso? Die Antwort fällt länger aus, als wir es uns gewünscht hätten. Erst mal lieber den Flyer, danke.

Auf der Suche nach der Kundgebung zur Demonstration ziehen wir die Reißverschlüsse unserer Jacken bis an den Anschlag und vergraben unsere Gesichter in den Schals. Der Wind peitscht eisig durch die Mainzer Gassen, mittlerweile hat es zu schneien begonnen. Wir laufen mit der Masse vom Bahnhof weg. Entfernt hören wir Schlagworte wie „kein Krieg im Irak“ oder „Not welcome Mr. Bush“ krächzend aus einem Megafon schallen. Hier sind wir endlich richtig, hier ist Mainz in Bewegung, hier schreibt die Welt Geschichte.

Auf dem offenen Platz wurde eine gedrungene Bühne errichtet. Oben tummeln sich die semi-prominenten Sprecher der Aktivisten-Szene, unten drängen sich Protestanten aller Nationen, Generationen und Gesinnungen. An der gegenüberliegenden Seite stehen vor den Übertragungswägen durchgefrorene Kameramänner und zeichnen für A wie ARD bis Z wie ZDF das Geschehen auf. An einigen kleinen Ständen werden das türkische Brot Börek, grüner Tee in kleinen Gläsern und die Grundausstattung für einen waschechten Demonstranten gereicht: Buttons, Flyer, Patches, Spuckies, Sticker und sogar Plakate für diejenigen, die einfach mal mitmachen wollen. Auch die Jungs von Linksruck sind wieder mit dabei. Stolz präsentieren sie uns ein Plakat, das angeblich verboten wurde. Es zeigt den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Unter seinem Bild der Schriftzug: Terrorist Nr. 1! Ab und an brüllt einer aus ihren Reihen in das Megafon: „Say hey, say ho, Bush has got to go!“ Damit er es auch wirklich versteht.

Für das Geschwafel auf der Bühne scheint sich kaum jemand zu interessieren. Jedes Mal, wenn es oben leise wird, erhebt sich zu Füßen der Redner wieder der Geräuschpegel. Beifall gibt es in den Wortpausen, auch gerne mal ohne, dass man deren Worte verstanden hat. Wird schon richtig sein, was der da sagt. Wer zwischen Imbiss und Stickerkauf aber auch mal zuhört, der merkt, dass ganz und gar nicht alles stimmt. Beispielsweise lobpreist ein iranischer Sprecher die politische Diktatur in seinem Heimatland und vergisst dabei zu erwähnen, dass die Medien dort rigoros von der Regierung unterdrückt, Jugendliche mit Hilfe von Drogen klein gehalten werden, dabei kaum Freizeitmöglichkeiten haben und ihre einzige Möglichkeit zur Freiheit in Orgien an den Wochenenden sehen. Da keiner zuhört, ist das aber auch nicht so schlimm. Wichtig ist der laut gesprochene Schlusssatz seiner Rede: „Nein, Mr. Bush, kein Krieg im Iran!“ Und alles jubelt und schwenkt die Plakate und Transparente. Der nächste Sprecher schlägt den sofortigen Abbau allen Militärs in allen Ländern der Welt vor. Gute Idee? Auch für ihn wird in die Hände geklatscht. Vor lauter Stehen scheinen uns die Füße anzufrieren.

Wir laden uns zu einer Tasse schwarzen Tee in eine nahe gelegene Wohnung ein. Kommt ihr mit auf die Demo? Na klar. Aus dem Fenster hängt ein riesiges Stoffbanner mit der Aufschrift: „Bush not welcome“. Der Bewohner erzählt, wie hier gestern eine Hand voll friedlicher Demonstranten von einer alarmierten Armee deutscher Staatsbeamter in gepanzerten Wägen durch die Straßen verfolgt wurden. Er findet es lustig, dass sie dabei das neue Lied von Greenday „American Idiot“ spielten. Wir sollten uns mal vorstellen, was das den Staat koste!

Zurück auf dem neuen Mainzer Platz der Revolution hat sich in der Zwischenzeit einiges getan. Doch wieder erinnert uns die Szene mehr an einen Faschingsumzug als an eine ernst gemeinte Protestaktion. Der Demonstrationszug ist im Inbegriff zu starten. Vorne an: türkische Freiheitskämpfer. Mittendrin: Wägen, auf denen Szenen aus Guantanamo in selbst gebastelten Kostümen nachgestellt werden oder Bush in einem Panzer sitzt. Und Musik, Reaggae und Dancehall. Hinten an: der Freund und Helfer. Der Zug setzt sich in Bewegung. Langsam und friedlich trotten die Protestanten vor unzähligen von Augenpaaren aus den Polizistenreihen die Strassen entlang. Wo Bush denn nun sei? Der sei nicht einmal mehr in Mainz, heißt es. Das scheint in diesem Moment auch kaum jemandem besonders wichtig zu sein. Hauptsache es wird demonstriert.

Wir fragen uns, wann George W. Bush das erste Mal davon erfahren wird, dass ein paar Tausend Mainzer an diesem Morgen sich für ihn die Fußzehen verkühlten, weil sie ihm etwas sagen wollten. Vielleicht vergisst sein Geheimdienst ja auch ihm das Video zu zeigen. Oder er schaut - zurück in Texas - eben mal nicht hin, weil er gerade die Strohballen seiner Ranch zählt und sich vom Europa-Stress erholen muss. Oder er wird sich vielleicht beim Anblick des Spektakels die Frage stellen: War ich wirklich dort?

Freitag, 28. Januar 2005

Wer zu spät kommt...

...den bestraft in diesem Fall nicht das Leben, sondern die Fans. Sie tragen vornehmlich weite blau-rote Trikots über dicken Winterjacken, stehen auf eigens mitgebrachten Styropor-Würfeln und schreien sich mit Ausdrücken wie "Heeeeeey....du blinde Sau!!" für vier Viertel die Seele aus dem Hals. Diese Beschreibung könnte nun auf die Hooligans so mancher Sportart zutreffen, nirgends habe ich jedoch zuvor eine so aggressive und anscheinend intolerante Grundstimmung erlebt wie in dem engen Eishockeystadion der Mannheimer Adler am vergangenen Freitag. "Everywhere it is the same crowd", meinte unsere amerikanische Begleiterin, womit sie vielleicht nicht Unrecht hatte - meine Verwunderung konnte sie jedoch nicht schmälern.

Tief versunken in das Spielgeschehen schienen jegliche Verhaltensregeln über Bord geworfen, nur noch Freund oder Feind wurden gekannt, und kennt ein Mannheimer Raubvogel jemanden im Zweifelsfall nicht, gilt er als potentieller Feind oder Beute. Diese schmerzliche Erfahrung mit der privaten Gefolgschaft der Adler wurde uns vor allem deshalb zu Teil, weil wir uns erlaubten zu dem Match gegen die gefürchteten Kölner Haie zu spät zu kommen und uns dann auch noch eine annehmbare Sichtposition zu suchen: "Ich glaub ich spinn´!! Erst zu spät kommen und dann auch noch vordrängeln! Verschwinde hier!" Stimmt, hinter einem Kleiderschrank in Fleisch und Blut auf einer halben Meter hohen Kiste stehend kann das Spiel durchaus intensiv verfolgt werden. Vielen Dank für den Hinweis.

Man muss fairerweise dazu erwähnen, dass die Puk-Jäger aus Deutschlands Karneval-Metropole 2004 den Mannheimern den Meistertitel klauten, der zuvor für viele Jahre die Vereinsvitrine der Adler schmückte. Da kann einem als Lokalpatriot der Gaul schon einmal durchgehen.

Doch Gott sei Dank fanden sich in den Reihen der Fans nicht nur Haudegen mit finsteren Blicken. Ein anderer, der unsere Auseinandersetzung wohl mitbekommen haben muss, führte uns mehrere Stufen abwärts zu seinem Horst, tief in die brodelnde Masse der Adler. Dank unseres fremden Freundes ging diese Schlacht an uns und wir wurden nach kurzzeitg abschätzenden Beäugungen in den Kreis seiner Fanfamilie aufgenommen.

Von unserem neuen Platz konnten wir das erste Mal die gesamte Eisfläche und die angrenzenden Menschenscharen überblicken. Dicht zusammengepfercht wie Tiere starrte jeder gebannt auf das Spielfeld. Erstaunlich war doch die Mischung der Altersklassen im Publikum. Wir mittendrin. Zuerst leicht ratlos zögernd, dann wild mitgestikulierend und bald riss uns die Action der Spieler mit wie ein Orkan.

adler
Quelle: Postbote

Es schien gut zu laufen für die Adler, der Spielstand 3:1 am Ende des dritten Viertels wurde bereits um uns herum mit nun etwas entspannteren Mienen gefeiert. Dann im letzten Viertel der unerwartete Auftakt der Haie, 3:2! Ich erfahre von meinem Nebenmann, dass die Mannheimer die ganze letzte Woche "ständig "Powerplay" trainierten und jetzt nichts davon zu sehen sei..verdammt!" Außer Zustimmung fiel mir dazu nichts mehr ein. Dann ein Hochschuss vor dem Tor der Adler, der Ersatz-Torhüter patzt: Spielstand 3:3. Das kleine Stadion hielt plötzlich den Atem an. Die letzten Minuten waren so spannend, dass es so manchen Stammgast scheinbar auf seinem kleinen Stehklotz nahezu zerriss.

Während die Mannheimer Spieler um den Puk und einen weiteren Punkt kämpften, schlugen die Schlachtenbummler nervös ihre Trommeln und stießen fast schon verzweifelt ihre lyrischen Kompositionen hervor: "Ihr seid nur ein Karnevalsverein, Karnevalsverein, ...". Unglaublich aber die Motivation zeigte ihre Wirkung: Erlösung in den letzten Spielzügen. Ein Tor, das besser nicht gefeiert werden könnte, und hätte ich nicht mit dem Rest des Stadions meine Hände nach oben gerissen und mich mit den Umherstehenden umarmt, stünde an dieser Stelle gewiss ein Photo dieses Happenings.

Der Abpfiff steigerte die Zufriedenheit der Fans ins Unermessliche. Zuvor feindlich Gesinnte klopften sich auf die Schulter, böse Blicke wandelten sich in verzeihendes Lächeln. Die Schlacht war fürs Erste vorbei und die Kämper zogen mit ihrer Beute ab. Abschied von unserer Familie. Ob wir jetzt öfters kämen?
Man weiss es nie, wann es einen das nächste Mal packt seine Integrationsfähigkeiten auf die Probe zu stellen. Eine Sozialstudie vom feinsten, keine Frage.

Trau Dich!

Du stehst draußen,

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