Sonntag, 20. Februar 2005

Mathilde - Hoffnung im Kino

Das Wichtigste ist, dass sie glaubt. Und niemand ihr glaubt. Je mehr sie von ihrer Umgebung für verrückt erklärt wird, um so mehr treibt sie die Hoffnung nach vorn. Mit bloßer Willenskraft macht Mathilde das möglich, was wir Menschen in der heutigen Zeit verlernt zu haben scheinen: lieben, hoffen und so fest an die guten Dinge glauben, bis sie wahr werden. Doch ein großer Teil des 133-minütigen Kunstwerkes spricht nicht etwa über hoffnungsvolle Dinge, sondern vielmehr über die Schattenseiten der Menschlichkeit und die Absurdität des Kriegführens an sich.

mathilde - das kinoplakat zum film
Quelle: http://wwws.warnerbros.de/movies/avle/

1917, in Zeiten des ersten Weltkrieges muss ein 17-jähriger Sohn eines französischen Leuchtturmwärters gegen seinen Willen und in völliger Unwissenscheit über seine bevorstehende Zeit an die Front gegen Deutschland. Bei seinem Abschied hinterläßt Maneche (Gaspard Ulliel) seine Jugendliebe Mathilde, mit der er seit dem Kindesalter in unvergleichlicher Zweisamkeit seine Nachmittage verbrachte. Die verwaiste Schönheit, gespielt von Audrey Tatou, hinkt seit der Erkrankung an Kinderlähmung mit einem Bein.

Während sie im Krieg auf ihn warten muss, erfährt Maneche in einer Hölle aus Schlamm und verwesendem Fleisch die Grausamkeit des Krieges. Dem Zuschauer werden wieder und wieder schonungslose Kriegszenen gezeigt, die in Kontrast zu Maneches bisherigem Leben um ein vielfaches gräßlicher wirken. Auf Nachtwache wird er von feindlichen Kugeln in der Hand getroffen und vom französischen Kriegsgericht kurz darauf als Deserteur beschuldigt und zum Tode verurteilt. Daraufhin wird er in den schrecklichen Frontabschnitt mit dem aberwitzigen Namen "Bingo Crepescule" deportiert. In seiner schmerzenden Hand spürt er den Herzschlag von Mathilde, was ihn an die letzte gemeinsame Nacht mit ihr erinnert. In seinen letzten Stunden, bevor er mit fünf weiteren Verurteilten ins Niemandsland zwischen die Fronten und damit in den sicheren Tod geschickt wird, widmet er seine Gedanken ausschließlich der geliebten Mathilde, er steigert sich aufgrund der psychischen Belastung in den Wahn und verkennt dabei die Nähe des Todes.

Den weiteren Verlauf erfährt der Zuschauer in Bruchstücken durch Erzählungen anderer Soldaten. Drei Jahre nach der Einberufung Maneches weigert sich Mathilde trotz der Resignation ihrer Stiefeltern den Tod ihres Geliebten anzuerkennen. Sie reist nach Paris und beginnt ihre Suche nach Überlebenden aus Bingo Crepescule. Sie setzt ihre Nachforschungen bei den Angehörigen der ebenfalls zum Tode verurteilten Soldatenkameraden Maneches an und betritt deren Leben vor dem Krieg. Ab diesem Zeitpunkt erinnert das Werk fast schon an die Verfilmung eines Kriminalromans - wäre da nicht die Brutalität der immer wieder gezeigten Kriegsszenerien aus den Erzählungen der Befragten. Durch die Gegenüberstellung von bisherigem Leben und der Brutalität der Kriegsbilder erreicht Jean-Pierre Jeunet mit seinem Film die Grenzen der Absurdität des Krieges. Fast wahnwitzig und vollkommen verstandesfern erscheinen dem Zuschauer die skurillen Todesbilder an der Front und bald fragt man sich wieder und wieder, wie die Menschheit zu solch Grausamkeit fähig ist, wieso eine so harmonische Welt durch bloßen Kriegsdurst überschattet werden kann. Besonders als Mathilde von einem kurzzeitigen Weggefährten Maneches an die Stelle des ehemaligen Bingo Crepescule geführt wird, wo sich wenige Zeit nach der blutigen Schlacht schon wieder ein Blumenfeld bis zum Horizont erstreckt, möchte man mit ihr glauben, das alles hätte niemals existiert. Und jeden Moment würde ihr Geliebter sie zärtlich über den Rücken streichen und ihr leise ins Ohr flüstern: "Du hast nur schlecht geträumt!" Doch dieser Wunsch wird weder Mathilde noch dem Zuschauer erfüllt, und was bleibt, ist der Kloß im Hals. Auch wenn das Gras über die Wunden des Krieges zu wachsen versucht, bleiben doch die Narben und die nüchterne Erkenntnis der Absolutheit des Todes.

Jeunet gelingt es den Kontrast zweier ineinander verflochtener Geschichten bis auf die Spitze zu treiben. Zwischen den Erinnerungen an eine große Liebe und die vernichtenden Szenen des ersten Weltkrieges wird der Zuschauer von einem Gefühl ins andere gerissen, ohne in den 133 Minuten nur einen Moment verschnaufen zu können.

Eine große Liebesgeschichte, die uns zeigt, dass es wahre Hingabe geben kann, wenn man nur an sie glaubt. Gleichzeitig eine Mahnung an die Schattenseiten der Menschheit und die rohe Sinnlosigkeit des Krieges.

Erfreulich, dass nicht nur die Programmkinos die Genialität des Werkes erkannt haben.

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