Montag, 4. April 2005

Der Papst im Ofen meiner Oma

Eine satirische Bewertung des Medienspektakels um den Tod des Papstes.

Kaum, dass ich mich auf dem soften Ohrensessel nieder gelassen habe, biegt sie mit freudig strahlenden Augen um die Ecke und streckt mir einen Teller mit Leckereien entgegen. „Hier mein Junge, greif doch zu!“ Gerne würde ich ablehnen, doch ich weiß gleichzeitig wie unmöglich dieser Gedanke ist. Drücke ich meinen Finger auf das nagelneue Touchpad der Bedienung vor der schwarzen Mattscheibe am Eingang des Hauses meiner Großmutter, weiß ich schon, worauf ich mich die nächsten Stunden einzulassen habe. Es ist ein Spiel, bei dem ich mich jedes Mal von neuem entschließe mitzumachen. Wie oft hatte ich schon versucht dem zu entkommen und mich letztendlich damit abgefunden, dass ich gewisse Erwartungen zu erfüllen habe.

Ich schnaufe also einmal kurz durch und nehme mir eine Reportage von ihrem Pralinenteller. „Das ist eine neue Spezialmischung!“ erklärt mir Oma und es wird mir bewusst, dass ich wieder einmal das Versuchskaninchen für eine Rezeptur bin, von der sie selbst noch nicht recht überzeugt zu sein scheint. Mühsam schlucke ich den Brocken hinunter. Meine gustatorischen Knospen in der Mundhöhle schlagen Alarm, da sie den übermäßig portionierten Anteil süßer Sensation in Windeseile entlarven. Der bittere Beigeschmack vom Tod des höchsten christlichen Oberhauptes und die Gewissheit, dass es sich um diese Sorte Kekse handelt, von denen man schon nach dem ersten Bissen mehr haben will, klingen in meiner Kehle nach. „Ich weiß doch, was Dir schmeckt, mein Junge. Und alle anderen mögen sie auch!“ Es kommt mir vor, als bestünde ihr Lebenswerk schon immer nur darin, meiner gesamten Sippschaft ein gequält zufriedenes Gesicht abzuringen. Am besten reagiere ich gar nicht, denke ich mir, es ist ohnehin zwecklos. „Was steht denn heute auf dem Speiseplan, Oma?“ frage ich, um mich der Rezension des eben gereichten Häppchens zu entziehen. „Ach weißt du, bei den Katholiken drüben ist der Papst gestorben, da dachte ich, ich mache was draus!“ Mir schwant Böses. Immer wenn so etwas geschieht, dann fährt meine Oma volles Geschütz auf, muss man wissen. Und sie ist eine Meisterin der Improvisation. Nicht etwa mal eben nur ein kleines Gericht, damit man weiß, wie das so schmeckt, nein, nein, ihr komplettes Umfeld wird solange mit ihrer Kochkunst bombardiert, bis jede Pore des Körpers davon ausdünstet und noch Tage danach der Geschmack des Medienschmauses auf der Zunge liegt. Das letzte Mal, dass Oma für die gesammelte Verwandtschaft ein derartiges Prozedere veranstaltete, muss um Weihnachten gewesen sein. Da gab es asiatisches Allerlei, Thailänder Strandgeschrei und als Dessert Mousse au tiers monde mit Schicksalsschlag und Bitterschokolade obendrauf. Und die ganze Familie saß um die gefüllte Tafel und rief fast im Chor: „Ja, gib uns mehr davon, fülle uns noch eine Portion auf den Teller.“ Wer dann immer noch nicht genug hatte, konnte später noch in die runde Blechdose greifen und sich ein paar Spendenkeksen schmecken lassen. Ich erinnere mich dunkel, wie ich mich auf der Nachhausefahrt fast übergeben hätte. Mein Vater sagte nur, dass das alles schon seine Richtigkeit und auch seine positiven Seiten hätte. Gerne hätte ich ihm geglaubt, aber noch Wochen nachher wurde mir beim Gedanken an den Festtagsschmaus speiübel. Ich nahm mir damals vor, beim nächsten Besuch meiner Großmutter klüger zu sein: „Nein danke Oma, eine Portion reicht mir völlig. Ich muss auch bald los und komme lieber morgen wieder vorbei, wenn ich wieder Hunger habe.“ Jetzt höre ich mich lügen: “Ui, das sieht ja toll aus, Oma, da hast du dir aber wirklich wieder was tolles einfallen lassen. Und ich habe wirklich großen Hunger!“

Pünktlich um acht steht also das Entree - ein internationaler Eintopf aus Protesten im Gazastreifen, Debatten über die Gesundheitsreform aber vor allem den letzten Stunden des Papstes - dampfend vor mir. Das Eintauchen des Löffels ist hierbei nicht unerheblich, denn der erste Geschmack gibt Ausblick auf den weiteren Speiseplan. Nach dem ersten Gang folgt direkt im Anschluss Menschenauflauf a la Petersplatz, gespickt mit jungem Gemüse an einer sämigen Soße aus Expertenmeinungen und Hintergrundinformationen. Dazu reicht Oma einen „Trois Fenêtre“, der zwar langweilig schmeckt, aber nach den ausführlichen Erläuterungen meiner Gastgeberin ein wirklich interessantes Tröpfchen sein muss. Gerade noch rutscht der letzte Bissen des Auflaufs meine Speiseröhre hinunter, da steuert meine Oma schon ihrem Höhe- und gleichzeitig Brennpunkt entgegen und zieht den einbalsamierten Braten aus dem Ofen: toter Papst auf Leichenbett. Dazu reicht sie frisch geerntete Live-Kommentare und Parallelschaltungen zum Mainzer Dom an Lorbeerblättern. Schon legt sie auch ihre Platte mit den Kirchenliedern aus ihrer Kindheit in Polen auf den verstaubten Plattenteller. „Ein wahres Jahrhundertereignis“, meint sie und ich stimme ihr zu, weil ich weiß wie selten sie einen solchen dicken Brocken an die Angel bekommt und meine Sinne mittlerweile sowieso vom edlen Tropfen der Dauerberieselung benebelt sind. Lange vorher hatte Großmutter die Kochvariation dieses Mahls durchdacht, trainiert und vorbereitet.

Obwohl ich schon nach der Hälfte des zweiten Ganges kaum noch papp sagen kann, erweise ich ihr die zwar nicht letzte aber bedeutende Ehre und spiele Interesse an ihren Kochkünsten vor. Sie verkauft ihren Hauptgang als Sensation. Die Katholiken von nebenan dürften sich freuen, denke ich mir, da vielleicht beim nächsten hausinternen Ausschlachten der eine oder andere meiner Familie direkt in deren Haus einfallen wird, um sich in Nahaufnahme von der Qualität ihrer Produkte zu überzeugen. Ich überlege mir, ob meine Oma nicht etwa Geld für ihre kleine Gratis-Verkostung von ihren Nachbarn verlangen sollte, komme dann aber im gleichen Moment zu der Überzeugung, dass sie ja gerne mal etwas gewissermaßen freiwillig und ehrenamtlich auskocht. Schließlich sind die Verwandten ja auch genügsam und freuen sich über nahezu alles, was Omi ihnen auftischt!

Ich verwerfe diesen Gedanken, weil ich an dem zähen Fleisch des noch warmen Bratens zu kauen habe. Als ich endlich meinen Teller bis auf das letzte bisschen leer geputzt habe, blicke ich erleichtert auf. Meine Oma schnellt wieder zur Schöpfkelle und deutet eine neue Portionierung an. „Nein, danke!“ erwidere ich verzweifelt, worauf sie entgegnet: „Mensch Junge, Du musst doch groß und gebildet werden!“ Also noch mal eine Runde der würzigen Komposition und dazu natürlich wieder in Dauerschleife den „Trois Fenêtre“. Ich bezweifle, dass sie einen anderen Wein in ihrem Keller beherbergt. Als ich auch endlich die Bratenform ihres Inhaltes entleert habe und nur noch Krümel übrig bleiben, wirkt meine Oma zufrieden und ich betrunken. Zu meinem Erstaunen bemerkt sie, dass wir „jetzt aber mal ein kleines Päuschen bräuchten und ja so lange uns dem Tatort widmen könnten.“ Doch kaum habe ich Hoffnung in ihre Gnade geschöpft fügt sie beiläufig hinzu: „Um 22.06 Uhr bringt Sabine dann den Nachtisch vorbei: eine Talkshow! Un die Nachbarn bringt sie auch mit. Mei Braten ist schließlich Thema des Tages!“

Statt mich zu freuen, durchzuckt meinen ganzen Körper einen Anflug von Ekel und Aversion. Ich stelle mir die Kardinalsfrage: Bleiben oder gehen? Mir wird klar, dass ich nicht länger hier sitzen und auf den Henker warten kann, der mich so lange mit dem Leichenschmaus voll stopfen wird, bis ich platze. Ich mache also meine Leiden öffentlich, bevor ich aufgrund eines septischen Schocks oder eines irreversiblen Zusammenbruchs des Herz-Kreislauf-Systems mein Bewusstsein verliere. Ich reiße mich von der Bahre hoch, hechte mit gefülltem Magen an die Garderobe und vertröste meine Großmutter mit der Entschuldigung, dass ich noch was Wichtiges erledigen müsse. Kurz bevor die hölzerne Flügeltür hinter mir zuschlägt, höre ich meine Oma mir zurufen: „Ich schicke Dir in den nächsten Tagen noch ein paar Portionen vorbei, Junge. Ich habe doch noch so viel eingefroren!“ Ich schwöre mir, dass es das letzte Mal war, dass ich mitgespielt habe, aber wie bringe ich das meiner Verwandtschaft bei?

Trau Dich!

Du stehst draußen,

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