Montag, 14. März 2005

Madame Lan

Versprochen ist versprochen. Fast auf den Tag genau ein Jahr, nachdem ich Madame Lans Gast war, mache ich endlich mein Versprechen wahr und erzähle ihre Geschichte:

Die Heimatstadt von Madame Lan, Nha Trang, liegt in der Südhälfte Vietnams. Als Tochter des von den französischen Kolonialherren eingesetzten Polizeichefs wuchs sie sorglos auf und ging auf die französische Schule der Stadt. Als es den Viet Minh unter General Vo Nguyen Giap nach jahrelangem Guerilla-Kampf am 7. Mai 1954 jedoch gelingt, die Franzosen in der Schlacht von Dien Bien Phu zu besiegen, endet mit der französischen Kolonialherrschaft auch das sorglose Leben Lans. Der Vater wird bald seines Postens enthoben. Wenig später sind Vater und Mutter verschwunden. Lan wird von ihrer Tante aufgenommen, die zu geizig ist, um ihre Nichte in die Schule zu schicken. Ihre eigenen Kinder gehen jedoch zur Schule. Wie ein Aschenputtel lebte das junge Mädchen Lan von jetzt an. Die gesamte Arbeit im Haushalt wurde ihr übertragen und sobald die erledigt war, ging sie putzen um sich ihr Kostgeld für die Tante zu verdienen. In den wenigen freien Stunden, die sie hatte, schlich sie sich zum Schulgebäude, versteckte sich unter dem offenen Fenster und lauschte dem Unterricht, denn ihr Traum war es Lehrerin zu werden. Mit sechzehn ging sie zur Müllabfuhr. Die Arbeit war härter und schmutziger, aber besser bezahlt. Lan wollte schließlich zur Schule gehen. Und das kostete Geld. Tagsüber ging sie zur Schule, abends arbeite sie als Straßenfegerin und nachts - auf der Strasse im Schein der Straßenlaternen - machte sie ihre Schulaufgaben und lernte für die Prüfungen. Trotz der widrigen Umstände schloss sie die Schule erfolgreich ab und wurde Lehrerin für Französisch und einigen anderen Fächern, die mir aber leider entfallen sind. Sie ging in ihrem Beruf auf. Irgendwann fand sie die Liebe und heiratete einen Kapitän der Handelsmarine.

Dann kam der Vietnamkrieg. Lan blieb allein in Nha Trang, ihr Mann wurde Kapitän auf einem südvietnamesischen Kriegsschiff.

Als dann Saigon, die Hauptstadt Südvietnams, am 30. April 1975 von den Truppen des Nordens eingenommen wurde und die letzten Angehörigen des US-Marine-Corps vom Dach der US-Botschaft ausgeflogen wurden, begann das eigentliche Martyrium der kleinen Familie. Madame Lan war inzwischen Mutter eines kleinen Sohnes, aber ihr Mann verschwand, als Offizier der besiegten südvietnamesischen Streitkräfte, für die nächsten zehn Jahre in den Kerkern der neuen kommunistischen Herrscher.
Lan erhielt als seine Frau Berufsverbot. Nachdem ihr Mann aus der Gefangenschaft entlassen wurde, zog die Familie nach Saigon, das jetzt Ho-Chi-Minh-Stadt heißt. Die Quälereien im Gefängnis hatten Lans Ehemann stark verändert. "Er war nicht mehr wieder zu erkennen", sagte sie mir.

Um den Repressalien in Vietnam zu entgehen, bemühten sie sich um die Ausreise in die USA. Sie waren ihn Vietnam ohnehin nicht erwünscht. Nachdem endlich die nötigen Papiere zusammengetragen waren, erhielt die Familie eine Vorladung zu einem "Gespräch" in der für die Ausreise zuständigen Behörde. Mit dem Fahrrad machten sie sich auf den Weg zum besagten Amtsgebäude, um auch diese letzte Hürde zu überwinden. Unterwegs gab es einen "Unfall". Ein Auto des Geheimdienstes kam aus dem Nichts angeschossen und überfuhr den Vater.

Der Traum von Amerika war gestorben. Lan erwartete ihr zweites Kind.

Die folgenden Jahre verbrachte Lan damit, ihren mit schweren Kopfverletzungen dahinsiechenden Ehemann zu pflegen. Als er nach Jahren wieder halbwegs hergestellt war, ging er fort. Er wäre der Familie eine zu große Belastung gewesen. Seitdem arbeitet er in den Bergen in einem Steinbruch. Er war Kapitän gewesen, hatte die Welt gesehen und eine Familie gehabt. Heute ist er ein Krüppel mit gebrochener Seele und hackt mit Hammer und Meißel unter der Glutsonne Vietnams Tag für Tag Granitquader aus dem Berg.

Madame Lan lebt mit ihrer Tochter wieder in Nha Trang. Das Berufsverbot ist nie aufgehoben worden, und somit hat sie kein Einkommen. In ihrer kleinen Einraumwohnung hat sie eine Tafel über dem Esstisch aufgehängt und gibt Ausländern Unterricht in Vietnamesisch, um sich über Wasser zu halten. Ihre Tochter geht zur Schule und möchte in Frankreich studieren. Der Sohn ist studierter Jurist (wo er das studiert hat kann ich leider nicht mehr sagen), hat aber in Vietnam ebenfalls Berufsverbot.

Während sie mir ihre traurige Geschichte erzählte, verschwand trotzdem nie das Lächeln von Madame Lans Gesicht. "Man muss nunmal weiterleben. Was sollen wir sonst machen?"

- Der Matze -

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Postbote - 14. Mär, 15:07

Lebenswille und Lernbereitschaft

Jeder von uns sollte sich an der bedingungslosen Lernbereitschaft und dem kaum stillbaren Lebenswillen wirklich ein Beispiel nehmen. Wie kann ich in unserem Wohlstand nach einer solchen Erfahrung noch über ein beschwerliches Leben klagen? Das Seltsame ist paradoxerweise: je mehr du besitzt (oder je besser es Dir geht), desto unglücklicher bist du...und umgekehrt, oder nicht?

Tschulie - 15. Mär, 10:22

*taschentücherrauskram*


libidopter - 20. Mär, 01:19

Werde die Geschichte Madame Lans mit Verlaub weiterverbreiten

Habe mir vorgenommen, die rührende Geschichte Madame Lans ins Englische zu übertragen, und in einem ihrer Nachbarländer, auf den Philippinen, wo ich seit geraumer Zeit mein Leben friste, weiterverbreiten. Den Menschen hierzulande geht es im allgemeinen auch nicht gerade so gut, zumindest sehen sich die meisten auch einem harten Überlebenskampf ausgesetzt. Und deshalb wird ebenso viel geklagt. Doch sind die Menschen wenigstens vor solch üblen Szenarien, wie in der Geschichte Madame Lans, verschont geblieben. Sie sind sich auch dessen gar nicht bewußt, was manche Menschen an Schrecklichem in einem ihrer Nachbarländer durchmachen müßten.

Trau Dich!

Du stehst draußen,

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