Dienstag, 1. März 2005

War er wirklich da?

Wer hat nicht die Bilder im Fernsehen verfolgt? Wer war nicht gespannt, wie sich die Einwohner von Mainz bei solch hohem Staatsbesuch verhalten werden? Und wer hatte nicht schon damit gerechnet, dass der Kurztrip von Präsident George W. Bush vielmehr einer Inszenierung seiner PR-Abteilung gleichen würde, als dass der Mann sich ernsthaft mit den Deutschen auseinandersetze?

„Wenn wir nicht rechtzeitig los fahren, müssen wir im Zug stehen“. Also klingelt der Wecker am Mittwochmorgen bereits um 06.30 Uhr. Im Radio dann die Meldung, dass die Autobahnen von den amerikanischen Sicherheitsbeamten bereits früher als angekündigt gesperrt wurden. Pech für die Pendler. Wir stellen uns auf jede Menge Gerangel und Gedränge ein. In Berlin gingen 2002 schließlich über 100.000 Demonstranten auf die Straße!

Bei Kaffee und Brezel sitzen wir um 08.10 Uhr in einem nicht einmal halb vollen Abteil der Regionalbahn von Darmstadt in Richtung Wiesbaden. Irritiert fragen wir den Schaffner nach irgendwelchen Vorkommnissen. Wir lägen im Zeitplan. Er habe heute morgen mit einem Kollegen aus Mainz telefoniert. In Mainz sei überall Ausweiskontrolle.

Todesstille in Mainz

Als wir die breiten Stufen der Bahnhofsunterführung müde hinunter steigen, weht uns ein eisiger Wind entgegen, der auf dem Vorplatz des kleinen Bahnhofes Mainz Süd ungebremst unsere Gesichter trifft. Wieder nichts Außergewöhnliches. Wieder erstaunt. Ein Blick auf die Uhr: viertel vor neun. Wir stapfen los in Richtung City. Die Stadt: ausgestorben. Wir scheinen die einzig lebenden Wesen an diesem Morgen zu sein und kommen uns fehlplaziert vor. Die Geschäfte sind geschlossen, die Fensterläden zugeklappt, die Stelltische der Strassencafés hinter verriegelten Glastüren aufeinander gestapelt.

Dann endlich Bewegung im Augenwinkel. Zwei grüne Gestalten stehen an der Ecke und tippeln von einem Bein auf das andere. In ihren Taschen stecken Knüppel und Walkie-Talkie. Sie grinsen uns an. Wir fühlen uns beobachtet. Rechter Hand stehen grüne Kastenwägen mit Nummernschildern aus Potsdam. Ich greife zu meiner Kamera und mache meine erste Aufnahme, weniger aus Notwendigkeit als aus Alibi-Gründen.

Bei unserem weiteren Gang treffen wir vereinzelt auf Zivilisten, meist jedoch auf Polizisten, die die Wege in die Seitengassen versperren. Je weiter wir in die Innenstadt vordringen, desto mehr Einsatzwägen und Polizisten säumen die Straßen. Wieder will ich - dieses Mal vor einer Bäckerei - auf den Auslöser meiner Kamera drücken, um die Armada der Polizistenvehikel auf Celophan festzuhalten. Da lehnt sich ein kahl geschorenem Kopf aus dem Fenster des vordersten Wagens und schreit mit energischer Stimme: „Das würde ich an Deiner Stelle nicht tun!“ Verblüfft einerseits über ein Lebenszeichen anderseits über die Bestimmtheit in der Stimme des Polizisten senke ich meine Kamera. „Sonst steige ich aus!“, versucht der Kopf seiner Aussage Nachdruck zu verleihen. Ich überlege mir schnell, wie wichtig mir das Bild ist und drehe mich kopfschüttelnd um und entscheide mich gegen eine Diskussion. Das bisher einzig spannende an diesem Morgen ist die übermäßige Präsenz der Polizei, die sich scheinbar auf die Apokalypse vorzubereiten scheinen.

Weiter in Richtung Dom. Hier wenigstens einige schaulustige Mainzer und eifrige Journalisten auf der Jagd nach ihren ersten O-Tönen des Tages. Wenig spannend. Wir wollen uns irgendwo aufwärmen. Vielleicht ist später ja mehr los. Nach langer Suche endlich eine nicht verschlossene Tür: das Café d`Arte. Zwei Tische belegt. Wo sind die Mainzer? Wir erfahren am Telefon, dass Bush mittlerweile in Mainz gelandet ist.

Mit Kanonen auf Spatzen schießen

Nach einer Stunde Cappuccino und Tee versuchen wir erneut unser Glück. Immer noch ist es eisig kalt. Und tatsächlich ist mittlerweile in den Strassen mehr los. In einer weiteren erstaunlicherweise geöffneten Bäckerei machen wir Halt, um im Gedränge auf einem kleinen Schwarzweiß-Fernseher auf dem Bartisch Weltgeschichte zu verfolgen. Bushs Air Force One setzt die Räder auf deutschen Boden, er winkt und steigt in die Limousine. Wenig spektakulär, denken wir wieder und gehen weiter. Wir scheinen auf dem Weg in das Herz des Hochsicherheitstraktes zu sein. Auf den Gehwegen aufgereiht stehen die Ritter zur Wahrung der Staatssicherheit in voller Kampfmontur. Was jedoch immer noch fehlt, ist der Gegner. Und plötzlich sind wir an der Front! Eine grüne Wand aus Polizisten baut sich vor uns auf. Blaulicht, bewaffnete Polizisten und Anti-Konflikt-Teams, die mit Namensschildchen an der Brust munter lustige "Ich bleibe fair"-Buttons und Informationsbroschüren zu korrektem Verhalten auf Demonstrationen verteilen. Doch vor allem die Presse ist präsent. In jeder Himmelsrichtung entdecken wir mindestens ein Kamerateam, einen Übertragungswagen oder einen Fotografen mit überdimensionalem Objektiv um den Hals baumeln. Sie halten fest, dass nichts festzuhalten ist, außer einem überdurchschnittlichen Polizeiaufgebot und ein paar friedlichen Demonstranten mit Anti-Bush-Plakaten. Auch wir fotografieren.

Plauderstunde mit dem Anti-Konflikt-Team. Sie kommen aus Berlin. Sie kennen sich mit problematischen Demonstranten aus. Sie sind die Spezialisten. Wir wollen sie nicht bei ihrer Arbeit stören und laufen die gleiche Strecke wieder zurück zum Schwarz-Weiß-Fernseher. Auf dem Weg: "Bush = Bullshit" oder "Go home Bush"-Transparente. Sie streifen einfach durch die Straßen, scheinbar ohne Ziel und ohne Sinn, unter den wachsamen Augen der Staatsbeamten.

Aus purer Langeweile und aufgrund unserer nahezu abgefrorenen Fußzehen entscheiden wir uns zum Rückzug: ab elf sollen angeblich wieder die Bahnen fahren. Unterwegs eines der groteskesten Bilder: Eine Gruppe von maximal fünfzig Demonstranten mit USA-Flaggen und Pro-Bush-Transparenten stoßen Willkommensgrüße an Bush gen Himmel, selbstverständlich gefolgt von einer Eskorte aus einem Dutzend Polizeiwägen. Man stelle sich mal vor, es käme zu Ausschreitungen! Später werden sie dem ZDF erzählen, dass sie zeigen wollten, dass nicht ganz Deutschland gegen Bushs Besuch ist.

Wir stehen verwirrt auf dem Bahnsteig und zweifeln an unserem Vorhaben. Bald bekommen wir Gesellschaft von einem Kamerateam des Hessischen Rundfunks. Ob wir gerade auf der Pro-Bush-Demo waren? Auch sie wirken konfus, auch sie haben kalte Füße, auch sie fahren Bahn, nur in die andere Richtung. 11.52 Uhr nach Darmstadt, 11.52 Uhr nach Mainz Hbf. Die Entscheidung fällt uns schwer. Mit dem Titel „5 vor 12“ wurde auf der Webseite www.bushinmainz.de zu einer groß angelegten Anti-Bush-Demonstration und zivilem Ungehorsam aufgerufen, inklusive Kundgebung. Wir lassen uns wieder von der Vorstellung, dass doch etwas Spannendes passieren könnte, mitreißen und begleiten das hessische Kamerateam zum Mainzer Hauptbahnhof.

Faschingszug aus Protest

Als wir wieder aus dem Zug steigen, schießen mir unweigerlich Bilder vom zwei Wochen vergangenen Karneval in Köln in den Kopf. Verkleidete Menschen drängen sich über die Gleise und auf den Rolltreppen des Bahnhofs. Es wird viel Bier getrunken, die allgemeine Stimmung scheint heiter. Der einzige Unterschied zum Fasching: die grüne Sicherheit. Eine kleine Stadt im Ausnahmezustand. Wer sich besonders ärgert sind unbeteiligte Fahrgäste, wer sich besonders freut, ist der Türke in der anatolischen Döner-Bude an der Ecke. Kaum verlassen wir den Bahnhof, strecken uns unzählige Hände kopierte Flyer und Broschüren entgegen. Dabei geht es selten um den Staatsbesuch, als vielmehr um allgemeine politische Themen wie Hartz IV, die Bekämpfung des Kapitalismus oder Mumia Abu-Jamal, der seit Oktober 2003 im US-Todestrakt sitzt. Warum, steht leider nicht auf der Seite. Auch die PDS verteilt ihre Werbebroschüren: „Das Recht auf Leben muss unantastbar sein“, so der Titel. Zu Themen wie sie verschiedener nicht sein können, werden den Anwesenden informative wie meinungsbildende Häppchen angeboten. Ein gefundenes Fressen für Aktivisten. Wir sollen die Zeitung „Linksruck“ zu einem Vorzugs-Demo-Preis erstehen. Wir fragen, wieso? Die Antwort fällt länger aus, als wir es uns gewünscht hätten. Erst mal lieber den Flyer, danke.

Auf der Suche nach der Kundgebung zur Demonstration ziehen wir die Reißverschlüsse unserer Jacken bis an den Anschlag und vergraben unsere Gesichter in den Schals. Der Wind peitscht eisig durch die Mainzer Gassen, mittlerweile hat es zu schneien begonnen. Wir laufen mit der Masse vom Bahnhof weg. Entfernt hören wir Schlagworte wie „kein Krieg im Irak“ oder „Not welcome Mr. Bush“ krächzend aus einem Megafon schallen. Hier sind wir endlich richtig, hier ist Mainz in Bewegung, hier schreibt die Welt Geschichte.

Auf dem offenen Platz wurde eine gedrungene Bühne errichtet. Oben tummeln sich die semi-prominenten Sprecher der Aktivisten-Szene, unten drängen sich Protestanten aller Nationen, Generationen und Gesinnungen. An der gegenüberliegenden Seite stehen vor den Übertragungswägen durchgefrorene Kameramänner und zeichnen für A wie ARD bis Z wie ZDF das Geschehen auf. An einigen kleinen Ständen werden das türkische Brot Börek, grüner Tee in kleinen Gläsern und die Grundausstattung für einen waschechten Demonstranten gereicht: Buttons, Flyer, Patches, Spuckies, Sticker und sogar Plakate für diejenigen, die einfach mal mitmachen wollen. Auch die Jungs von Linksruck sind wieder mit dabei. Stolz präsentieren sie uns ein Plakat, das angeblich verboten wurde. Es zeigt den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Unter seinem Bild der Schriftzug: Terrorist Nr. 1! Ab und an brüllt einer aus ihren Reihen in das Megafon: „Say hey, say ho, Bush has got to go!“ Damit er es auch wirklich versteht.

Für das Geschwafel auf der Bühne scheint sich kaum jemand zu interessieren. Jedes Mal, wenn es oben leise wird, erhebt sich zu Füßen der Redner wieder der Geräuschpegel. Beifall gibt es in den Wortpausen, auch gerne mal ohne, dass man deren Worte verstanden hat. Wird schon richtig sein, was der da sagt. Wer zwischen Imbiss und Stickerkauf aber auch mal zuhört, der merkt, dass ganz und gar nicht alles stimmt. Beispielsweise lobpreist ein iranischer Sprecher die politische Diktatur in seinem Heimatland und vergisst dabei zu erwähnen, dass die Medien dort rigoros von der Regierung unterdrückt, Jugendliche mit Hilfe von Drogen klein gehalten werden, dabei kaum Freizeitmöglichkeiten haben und ihre einzige Möglichkeit zur Freiheit in Orgien an den Wochenenden sehen. Da keiner zuhört, ist das aber auch nicht so schlimm. Wichtig ist der laut gesprochene Schlusssatz seiner Rede: „Nein, Mr. Bush, kein Krieg im Iran!“ Und alles jubelt und schwenkt die Plakate und Transparente. Der nächste Sprecher schlägt den sofortigen Abbau allen Militärs in allen Ländern der Welt vor. Gute Idee? Auch für ihn wird in die Hände geklatscht. Vor lauter Stehen scheinen uns die Füße anzufrieren.

Wir laden uns zu einer Tasse schwarzen Tee in eine nahe gelegene Wohnung ein. Kommt ihr mit auf die Demo? Na klar. Aus dem Fenster hängt ein riesiges Stoffbanner mit der Aufschrift: „Bush not welcome“. Der Bewohner erzählt, wie hier gestern eine Hand voll friedlicher Demonstranten von einer alarmierten Armee deutscher Staatsbeamter in gepanzerten Wägen durch die Straßen verfolgt wurden. Er findet es lustig, dass sie dabei das neue Lied von Greenday „American Idiot“ spielten. Wir sollten uns mal vorstellen, was das den Staat koste!

Zurück auf dem neuen Mainzer Platz der Revolution hat sich in der Zwischenzeit einiges getan. Doch wieder erinnert uns die Szene mehr an einen Faschingsumzug als an eine ernst gemeinte Protestaktion. Der Demonstrationszug ist im Inbegriff zu starten. Vorne an: türkische Freiheitskämpfer. Mittendrin: Wägen, auf denen Szenen aus Guantanamo in selbst gebastelten Kostümen nachgestellt werden oder Bush in einem Panzer sitzt. Und Musik, Reaggae und Dancehall. Hinten an: der Freund und Helfer. Der Zug setzt sich in Bewegung. Langsam und friedlich trotten die Protestanten vor unzähligen von Augenpaaren aus den Polizistenreihen die Strassen entlang. Wo Bush denn nun sei? Der sei nicht einmal mehr in Mainz, heißt es. Das scheint in diesem Moment auch kaum jemandem besonders wichtig zu sein. Hauptsache es wird demonstriert.

Wir fragen uns, wann George W. Bush das erste Mal davon erfahren wird, dass ein paar Tausend Mainzer an diesem Morgen sich für ihn die Fußzehen verkühlten, weil sie ihm etwas sagen wollten. Vielleicht vergisst sein Geheimdienst ja auch ihm das Video zu zeigen. Oder er schaut - zurück in Texas - eben mal nicht hin, weil er gerade die Strohballen seiner Ranch zählt und sich vom Europa-Stress erholen muss. Oder er wird sich vielleicht beim Anblick des Spektakels die Frage stellen: War ich wirklich dort?

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Jan Soefjer - 1. Mär, 21:13

Durchaus eine - trotz der Länge - interessante Reportage. Die Berichterstattung in den großen Medien war jedenfalls langweilig.

Nur verstehe ich nicht, wieso der eine Polizist nicht wollte, dass du die Fahrzeuge fotografierst.

Das wäre sicher ein fantastisches Bild geworden, wenn Du es drauf ankommen hättest lassen und vor der Flucht den Polizisten in die Linse genommen hättest, wie er gerade wutentbrand aus dem Wagen springt, hehe.
Dummerweise wären dann aber einige Probleme nicht vermeidbar gewesen.
Andy auf der Flucht durch Mainz *loool*.

Aber mal ernsthaft: Auf welches Recht hat sich der Polizist eigentlich bezogen?

Postbote - 1. Mär, 21:35

Kein Recht!

Er hatte keinerlei Rechte mich an dem Foto zu hindern, aber gleichzeitig hätte er in seiner Position kurz das Walkie-Talkie in die Hand genommen und meine Zeit in Mainz wäre damit u einiges schwieriger verlaufen. Das war das Bild einfach nicht wert! Sonst hätte ich es getan!

Trau Dich!

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